Die ukrainische Bevölkerung leidet immens unter den Folgen des Krieges. Erfahrungen von Ohnmacht, Verlust, Vertreibung, Zerstörung und Gewalt führen bei den Betroffenen häufig zu Angst, Depression, Schlafstörungen oder Alkohol- und Drogenabhängigkeiten. Doch das ukrainische Gesundheitssystem ist seit Kriegsbeginn maximal belastet und kann die Menschen nicht mehr ausreichend versorgen. Insbesondere die psychosoziale Versorgung leidet unter den Kriegsfolgen.
Eine Klinikpartnerschaft zwischen der Katholischen Hochschule (KH) Freiburg und dem Verein Refudocs Freiburg e.V. auf deutscher sowie der Katholischen Universität Lwiw, der Caritas Ukraine und weiteren Gesundheitseinrichtungen auf ukrainischer Seite schafft Abhilfe.
„Es geht in dem Partnerschaftsprojekt darum, die psychosozialen, also die psychischen und sozialen Kenntnisse und Fertigkeiten des Gesundheitspersonals zu stärken, damit sie mehr wissen, mehr verstehen und ihren Patient*innen psychologische Erste Hilfe geben können“, erklärt Michael Wirsching, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und engagiert beim Verein der Freiburger Refudocs. Das Projekt möchte insbesondere diejenigen unterstützen, die zuallererst und am meisten mit den medizinischen und psychosozialen Problemen zu tun haben, so Wirsching: „Vor allen Dingen die Berufsgruppen, die nicht psychotherapeutisch tätig sind, denen etwas an die Hand zu geben, wenn sie mit Kriegsfolgen konfrontiert sind.“
Dabei kann die Klinikpartnerschaft an eine seit Langem bestehende Städtepartnerschaft zwischen Freiburg und Lwiw anknüpfen, in die auch die Katholische Hochschule Freiburg – die schon seit vielen Jahren sozialarbeiterisch in der Ukraine und auch in Lwiw tätig ist – und die Refudocs Freiburg e.V. involviert sind. Mit Beginn der russischen Vollinvasion rückte die soziale, finanzielle und medizinische Nothilfe in den Mittelpunkt der Partnerschaft.
Die psychosoziale Grundversorgung ist zentraler Bestandteil des Projekts. Sie folgt drei Schritten, soMichael Wirsching. „Der erste Schritt ist, zu erkennen und zu verstehen, der zweite ist Kommunikation und Erste Hilfe. Man nennt das auch psychologische Erste Hilfe. Und das Dritte ist ganz wichtig: die Grenzen dieser Grundversorgung zu erkennen, wenn man erkennt, da steckt mehr hinter, eine schwerste Traumatisierung oder eine schwerste Depression oder dass sogar Suizidalität droht.“
Projektleiter Claus Muke, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie, erläutert den Ablauf der Trainings: „Dafür kommen jeden Monat etwa 15 bis 20 Gesundheitsfachkräfte aus Lwiw nach Freiburg und durchlaufen eine Woche lang einen Kurs in psychosozialer Grundversorgung. Jeder Tag des Kurses beginnt mit einer Vorlesung. Dort wird das Tagesthema – zum Beispiel Angst, Depression oder Trauma – eingeführt. Dann folgt ein Patient*innen-Beispiel. Meistens handelt es sich um Schauspielpatient*innen, die wir auch im Medizinunterricht häufig miteinbeziehen. Auch Live-Konsultation kommt vor, also ein Gespräch, das jemand von unserem medizinischen Personal führt. Anschließend üben die Teilnehmenden den ganzen Nachmittag in Form von praktischen Übungen, das Gelernte anzuwenden.“
„Und dann gibt es eine zweite Schiene“, ergänzt die Professorin für Soziale Gerontologie Cornelia Kricheldorff, die ebenfalls im Projekt arbeitet. „Einen Teil derjenigen, die wir qualifizieren, bilden wir zu Trainer*innen aus, damit diese Personen das Programm anschließend vor Ort in der Ukraine durchführen können.“
31 Personen erwerben im Laufe des Projekts das Zertifikat, um selbst Trainings anbieten zu können. Viele davon wenden das Erlernte bereits während der Projektlaufzeit in der Ukraine an. Kricheldorff fügt hinzu: „Es war uns ganz wichtig, [...] dass wir auch eine Befähigung vermitteln – im Sinne von Empowerment – und diesen Ansatz vor Ort in die Ukraine bringen.“
Die Managerin des NaDiya-Projekts, Halyna Levkiv, kommt selbst aus der Ukraine und lebt seit 22 Jahren in Freiburg. Neben den beiden Aspekten der psychosozialen Grundversorgung und Ausbildung von Trainer*innen fördert das Projekt einen weiteren essenziellen Punkt: die zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie sagt: „Wenn die Ukrainer*innen hier nach Freiburg kommen, erleben wir einen Austausch, weil diese Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, sich hier auch kennenlernen. Das heißt, in diesen Seminaren entsteht auch ein Netzwerk.“
Was das Projekt außerdem auszeichnet, so Projektleiter Muke, „ist diese Face-to-face-Arbeit und die multiprofessionellen Teams, also nicht die Spezialist*innen, sondern die Basisversorgung.“ Darüber hinaus hebt Muke die starke Bedarfsorientierung hervor: „Also immer wieder neu zu testen: Was brauchen die Teilnehmenden, was wollen sie, was suchen sie?“
Dieser Gedanke der Grundversorgung stärkt letzten Endes auch das Gesundheitssystem in der Ukraine, wo, so Muke, „dieser psychosoziale und integrative und interprofessionelle Teil in unserer Wahrnehmung nicht sehr ausgebildet ist“. Projektmanagerin Halyna Levkiv stimmt zu und äußert einen Wunsch für die Zukunft von NaDiya: „Was wäre unser Traumziel für dieses Projekt?“, fragt sie und gibt selbst die Antwort: „Dass sich in Lwiw ein Kompetenz- und Ressourcenzentrum bildet.“
Thema: Psychosoziale Soforthilfe
Laufzeit: 01.04.2023 – 30.09.2024
Volumen: 733.000 Euro
Partner: Ukrainische Katholische Universität Lwiw (UKU), Scheptyzkyj-Hospital Lwiw, Caritas Ukraine, Westukrainisches spezialisiertes medizinisches Zentrum (für Kinder und Jugendliche), Militärmedizinisches klinisches Zentrum der westlichen Region in Lwiw
Partnerorganisationen in Deutschland: Katholische Hochschule Freiburg, Refudocs Freiburg e.V.